
Von Illusionen und Wirklichkeit
Nur näher heran. Wie Sie sehen, male ich gerade. Doch Sie stören mich dabei nicht. Schauen Sie nur genauer hin, das wird Ihnen ja nicht wehtun, nur mir vielleicht. Später. Ich weiss nicht, ob ich besonders gut bin in der Malerei, doch ich lasse meiner Hand freien Lauf und lasse die Farbe meines Geistes auf das Blatt dringen, lasse die Welt entstehen, die ich sehe. Jeder darf darin erkennen, was er möchte, aber beschweren Sie sich später nicht, wenn Sie etwas sehen, was Ihnen alsdann nicht gefallen sollte. Ich warte einfach. Auf das Ausatmen meiner Gedanken, wenn meine Arbeit vollbracht sein wird, vielleicht mit einer Hand auf meinen Schultern. Einer unterstützenden Hand, einer Tröstenden oder Drängenden. Vielleicht einer Tadelnden. Welche auch immer es sein wird, der Druck wird die Leere in mir ausfüllen, wird mir das Gefühl nehmen alleine zu sein, wird mir die Sicherheit geben gehört worden zu sein. Auf so eine ruhige Art und Weise. So schön und wichtig es gesagt zu haben, ohne das meine Worte in der bebenden Luft verhallten. Genug durchtränkt sie, genug durchflimmert sie, die Luft die in unsere Ohren, unsere Nasen und Münder dringt und uns einnimmt. Genug dröhnt doch heute in der Luft, was wir mit anhören müssen. Und Sie haben es nun selbst entschieden mein Bild anzuschauen, ohne, dass ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Also tadeln Sie mich nicht, belästigen Sie mich nicht mit neuen Tönen, Gerüchen, Geschmäckern, malen Sie stattdessen Ihr eigenes Bild und lassen Sie es mich selbst entscheiden, ob ich es betrachten möchte oder nicht.
Und treten Sie doch bitte einen kleinen Schritt zur Seite- vielen Dank- damit ich meinen Pinsel in blau tauchen kann.
Mit blauer Farbe vollende ich das seidene Band in den Haaren dieses Mädchens, welches ihr dichtes Haar zusammen hält.
Das Mädchen heisst Sonnenschein, so nennen es die Menschen, die etwas von der Sonne halten. Ja, es gibt natürlich viele die es nicht tun. Sie verabscheuen die Sonne. Sie lässt ihre Blumen verdorren, ihr Wasser verdunsten und ihre Haut verbrennen. Sie ist zu warm, zu weit weg, um etwas daran zu ändern und zu hell um den Gegenüber zu sehen, dem man dies gerne klagen möchte.
Das Mädchen wohnt hier- sehen Sie?- in dem kleinen Häuschen neben der alten Baracke von Frau Stumm. Sie heisst nicht etwa so, weil es ihr die Sprache verschlagen hat. Oh nein, wenn dies so wäre, könnte ich meine Farbei beiseite legen und mit meiner blanken Palette nach Hause gehen. Sie spricht wie ein Wasserfall die Worte tränken schon das Blatt. Es lösst sich an manchen Stellen beinahe schon fast auf, ich weiss nicht, mit was ich das kleben soll. Es entstehen Risse in meiner Zeichnung, wo das Wasser bereits getrocknet ist. Es hinterlässt Spuren und mein einziger Schutz wäre wohl dickeres Papier. Aber so weit bin ich nicht. Ich muss noch viel Arbeiten um an dickeres Papier zu kommen. Es ist teuer. Es verlangt viel Kraft und Aufwand. Und wenn ich einfach nicht mehr male, wenn ich schweige, dann kann mir Frau Stumm vielleicht nichts mehr anhaben auf dem Papier, in meiner Farbenwelt, aber dann kommen andere und schreien mir verpestete Luft in die Nase. Meine Haut an den Händen hat bereits Risse, so wie dieses Blatt. Durchzogen ist sie davon. Ihre übrigens auch, wie ich sehen kann. Ja, niemand bleibt verschont.
Nein, Frau Stumm heisst ebenso, weil sie nicht singen kann. Sie hat kein musikalisches Gehör, die arme Frau! Und was ist man heute schon in der Welt, ohne ein musikalisches Gehör, sagen Sie mir das?! Also ich, ich würde gar nicht aufstehen wollen, wenn ich die Vögel vor meinem Fenster nicht singen hören könnte. Frau Stumm hat gar keine Vögel vor ihrem Fenster. Sie sitzen zwitschernd, dort, beim Sonnenschein, Schande über dieses ungezogene Gör, dass Frau Stumm alle Vögel fortnimmt. In Wirklichkeit, wurden sie vertrieben. Aber die Wirklichkeit ist objektiv und meine Illusionen gipfeln sich in der Absurdität anderer Wirklichkeiten, während anderer Illusionen die Traumelemente meiner Wirklichkeit widerspiegeln. Schöne Träume. Albträume. Wirre, unsinnige Träume.
Sie können sich nicht ausstehen, die Frau Stumm und Sonnenschein. Sehen Sie, das Blatt zwischen den beiden Häusern ist ganz gewellt, nass.
Ich weiss nicht, wieso das so sein muss, ich sagte ja, ich lasse meiner Hand freien Lauf. Ich halte sie nicht zurück, oder hinterfrage zuerst ihr Drängen nach Handeln. Was wäre ich denn dann? Eine schlechte Künstlerin, aber vielleicht eine gute Lebenswandlerin.
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Diese zwei Häuschen stehen nicht zufällig dort nebeneinander. Nichts ist zufällig. Ihre Lebenswege sind eng miteinander verbunden, von Natur aus. Aber was das heissen mag, überlasse ich Ihnen. Ich möchte Ihnen hier nicht all zu viel vorschreiben. Sie sollten es einfach wissen, das ist wichtig. Dann werden sie die Unsinnigkeit dieses gewellten Blattes verstehen.
Und noch jemand wohnt dort. Sie können es jetzt nicht sehen, aber es steht dort. An der Südseite hinter der Baracke ragt ein hoher Turm hinauf in die Luft. Aber die Mauern dieses Turmes sind schwach und eigentlich nur illusionär. Dort wohnt eine Frau, Frau Deutlich, wird sie genannt. Alles an ihr ist deutlich, auffallend, springt einen an oder einfach nur ganz konkret ins Auge, je nachdem wie empfindsam man sein mag. Sogar ihre Aussprache ist deutlich, was an sich ja schon als Tugend genommen werden kann, heutzutage. Sie weiss sich wunderbar auszudrücken und schon sind die Ohren ihrer Mitmenschen umschmeichelt. Untreue Dinger, diese Ohren. Unterliegen dem Schein Frau Deutlichs Zunge forme Wahrheit, rein wie Blütenhonig, so süss klingen die Worte doch. Sie geht mit einer solch offen- sichtlichen Antipathie für gewisse Dinge durch die Welt, dass man ihren Eifer schon fast loben sollte. Ich habe ihr Tränensäcke gemalt, weil ich mir vorstelle, dass es unglaublich ermüdend sein muss mit einem so falschen Enthusiasmus durch den Tag zu schreiten! Nur Frau Deutlich und alle anderen, denen sie es in ihrer überäusserlichen Deutlichkeit einredet sehen ihr Zuhause, den Turm, belastbar und stolz in den Himmel ragen. Frau Stumm gehört unter uns gesagt zu diesen Menschen und eigentlich müsste sie sich glücklich schätzen einen so hohen Turm hinter ihrem Haus zu haben, der sie vor der Sonne schützen könnte, da diese hinterlistige aber beschlossen hat im Osten auf- und im Westen unterzugehen scheinen die heimtückischen Strahlen immer zu den Fenstern des Häuschens hinein. Frau Deutlich und sie sind enge Freundinnen. In aller Deutlichkeit redet sie ihr alle möglichen Hirngespinnste ein, die sie auf ihrer Suche nach Wahrheit in sich aufsaugt wie ein Schwamm. Sie versteht die Wahrheit als Wirklichkeit- was, wenn Sie mich fragen, an sich schon ein grunderschütternder Fehler ist- und die Wirklichkeit von Frau Deutlich gefällt ihr dabei besonders gut, sie sieht immer so prächtig aus, wie Frau Deutlich selbst. Aber schlussendlich ist die schöne Wirklichkeit des Einen, wie ich vorher bereits schilderte, die absurde Illusion eines anderen. Und so kehrt die Absurdität wie ein Bummerrang zu Frau Stumm zurück und überfällt sie von hinten, so dass sie sich schlussendlich doch ärgern muss. Über die Sonnenstrahlen, die in ihr Haus fallen. Weil der Turm sie doch nicht verdeckt. Also sind beide Schuld. Turm und Sonne. Sie halten sich schon den Kopf? Ja, ich sollte vielleicht lieber malen, als zu erklären. Den Menschen möchte ich kennenlernen, der mir die Welt erklären kann.
Eines Tages steht Sonnenschein in ihrem Garten und pflückt Erdbeeren. Sie schmecken köstlich und für jede Beere die sie isst, legte sie eine weitere beiseite.
Frau Stumm humpelt an den Zaun und späht zu ihr herüber.
„Immer am fressen!“ blärrt sie.
„Ich bin doch kein Tier! Ich esse und geniesse die Erdbeeren, die ich gepflanzt habe.“
„Pfui Daifel!“
„Na DER hat meine Beeren sicher nicht gepflanzt, so gut wie sie schmecken!“
„Bauchschmerzen wirst du noch bekommen! So gierig am essen bist du!“ Kaum kann Frau Stumm etwas sehen mit ihren schlechten Augen, und so erkennt sie den dünnen Faden zwischen Genuss und Gier nicht, der zwischen allem steht und die Wahrheit von der Illusion trennt.
„Wünsch mir doch so etwas nicht, Alte!“, ruft Sonnenschein hinüber. „Schau, ich esse langsam und lege sogar immer eine weitere beiseite!“
„Alt, nennst du mich! Aber ich bin reich an Weisheit“
Bevor ich den Dialog weiter ausführe, möchte ich anmerken, dass Frau Stumm auch hier der irrsinnigen Täuschen von Frau Deutlich erliegt, die Wirklichkeit des Alters und Weisheit wären unweigerlich miteinander verknüpft. Ja, wenn es nur immer so wäre!
„Aber ich bin reich an Weisheit“, sagt sie also. „Du legst sie zur Seite, damit niemand sonst sich an ihnen erfreuen kann!“
„Ich pflücke, bevor sie verfaulen.“, verbessert das Mädchen.
„Du lobst die Sonne, die deine Beeren verfaulen lässt und siehst nicht wie versklavt du bist?“
„Ich arbeite mit der Natur in die ich geboren wurde!“, verteidigt sich Sonnenschein. Aber ach, was hilft das Verteidigen, wenn Frau Stumm unmusikalisch ist? Sie hört keine Harmonien, man muss sie bemitleiden!
„Aus diesem Grunde muss ich es tun.“, fährt Sonnenschein fort. „Ich bekomme meinen Lohn!“
„Dein Lohn ist Schein und Trug!“
Da eilt Frau Deutlich herbei. Kaum bedeckt etwas ihre schlanke Gestalt und stolz wie ein Pfau tänzelt sie vor ihrer Freundin entlang. Das ist das Stichwort. Ich habe sie kunterbunt gemalt, man kann sie kaum übersehen.
„Was für ein wunderbares Kleid, das dich schmückt!“, lobt Frau Stumm in einem auf einmal zuckersüssen Ton, der Sonnenschein Übelkeit bereitet, wie ein Bonbon, das auf der Zunge klebt und von künstlichen Zusatzstoffen nur so trieft.
Sie hält es nicht länger aus und ruft hinüber:
„DAS ist Schein! Kaum bedeckt ist sie, wie kann das schön sein, wenn Beständigkeit doch wahre Schönheit bedeutet?!“
Oh, die spüre die ersten Hände auf meiner Schulter. Empörte, Anklagende, nur vereinzelt Zustimmende. Die Luft vibriert. Es zerreisst sie ja förmlich! Die Stimmung auf meinem Blatt ist nicht besser. Es wellt sich wie eine brechende Riesenwelle im Meer, Gerechtigkeit übend, ohne zu fragen, wie solche überhaupt definiert wird. Und schlussendlich alle verschlingend. Soll ich nun mit schwarzer Farbe weitermalen, oder mit weisser? Wohl spielt es keine Rolle. Mein schwarz ist das reine weiss eines anderen. Es belastet mich. Oder nicht? Und Sie erst recht nicht. Sie atmen einfach so ihre verpestete Luft weiter und ich frage mich: Leben blinde Menschen vielleicht einfacher? Oder tragen sie ein schwereres Los, weil meine Augen mir die Kraft verleihen, Farben zu wandeln, wie es mir meine Gedanken raten? Ihre schweigenden Augen leben doch umso mehr, sie lügen nicht. Dafür hören, riechen und schmecken sie die pure Ladung salziger, subjektiver Wahrheit. Sie können malen. Sie malen die traurigsten Bilder, aber betrachten müssen sie nur ihre eigenen Werke.
Ich wäre nicht gerne blind. Aber manchmal, wäre ich gerne stumm, unfähig zu malen. Egal wie viele Farben man mischt, aus schwarz kann ich niemals weiss werden lassen. Ich nicht. Nur die Sonne. Die strahlende Kraft, so weit weg und doch immer vor unseren Augen. Manche blendet sie, manche wärmt sie. Manche lässt sie zerfallen, manche aufblühen. Aber meine reine Farbe kann zu des anderen weiss werden. Schwarz. Wenn ich zu viel seiner Farbe aufnehme. Wenn das Wasser auf dem welligen Blatt seine Farbe zu meiner herüberdrängt und gnadenlos verschmelzen lässt. So quälend langsam, man kann dabei zusehen und doch nichts dagegen tun, wenn es erst einmal so weit gekommen ist. Wenn es erst einmal so weit gekommen ist, wird man sich damit abfinden, es so wollen, die Schönheit darin erkennen.
Aber so weit bin ich noch nicht. Es verlangt viel Kraft und Aufwand.
Und wenn ich einfach nicht mehr male, wenn ich schweige, dann kann mir Frau Stumm vielleicht nichts mehr anhaben auf dem Papier, in meiner Farbenwelt, aber dann kommen andere und andere und andere. Und so habe ich gemalt. Habe die Hände auf meiner Schulter gespürt. Fühle mich nicht mehr so einsam und ungehört.
Sie haben genug gesehen. Seien sie mir nicht böse, wenn ich mein Bild nun zusammenknülle und fortschmeisse. Es war ein Gedanke. Und es werden weitere kommen, in weiss.